LIEBER STREITEN STATT SCHWEIGEN: "EINSAMKEIT IN DER BEZIEHUNG KANN SICH LEBENSBEDROHLICH ANFüHLEN"

Streit in einer Beziehung sieht oft so aus, dass einer laut wird und der andere den Raum verlässt. Paartherapeutin Anna Wilitzki unterscheidet deshalb Angreifer und Rückzügler, die Konflikte unterschiedlich austragen.

Streit in einer Beziehung sieht oft so aus, dass einer laut wird und der andere den Raum verlässt. Paartherapeutin Anna Wilitzki unterscheidet deshalb Angreifer und Rückzügler, die Konflikte unterschiedlich austragen. Die emotionsfokussierte Paartherapeutin erforscht in ihrer Arbeit mit Paaren vor allem die Gefühle, die sich hinter Handlungen und Reaktionen verbergen. In ihrem neuen Buch "Einfach lieben" zeigt sie, wie Paare Alltagskonflikte lösen und eine glücklichere Beziehung führen können.

Anna Wilitzki: In Beziehungen treffen häufig Verfolger und Rückzügler aufeinander. Der Verfolger oder Angreifer startet den Konflikt meistens, ist lauter im Streit und wirkt wütend und aggressiv. Dagegen ist der Rückzügler passiver, er mauert oft und will in einen Streit nicht einsteigen. Keine der Kommunikationsformen ist richtig oder falsch. Auch wenn Rückzügler weniger aggressiv und laut sind, tragen sie ihren Teil zum Konflikt bei. So sieht es auch der bekannte Beziehungswissenschaftler John Gottman. Für ihn gibt es vier Faktoren, die eine Beziehung auf Dauer zerstören: Kritik, Verachtung, Rechtfertigung und Mauern.

Diese Rollen entwickeln sich meistens bereits in der Kindheit, können aber auch erst durch Ereignisse wie etwa eine Affäre aufkommen. Waren die Eltern beide Rückzügler und wurde selten gestritten, sondern eher geschwiegen und ignoriert, wird das Kind höchstwahrscheinlich auch zum Rückzügler. Sind die Eltern eher aggressiv gewesen und haben laut gestritten, kann auch deren Kind zum Verfolger werden.

Wenn Eltern "blinde Flecken" haben

Paare sollten erkennen, dass hinter einer Aktion ein tiefes Gefühl liegt, dass unsere Reaktion lenkt. Der Angreifer muss einsehen, dass es nicht nur seinen Schmerz gibt, sondern auch eine Emotion hinter der Reaktion des Rückzüglers. Bei gegenseitiger Empathie fällt es leichter, aufeinander zuzugehen und die Rollen aufzuweichen.

Zunächst sollte man sich fragen, warum man es der Person ständig recht machen will und ob man ein klassischer People Pleaser ist. Vielleicht bekommt man aber auch das Gefühl vom Partner, sich um all die Dinge kümmern zu müssen. Statt jemandem einen Vorwurf zu machen wie "Du bist nie zufrieden!", sollte man über die eigenen Anstrengungen und Emotionen sprechen, also beispielsweise: "Ich versuche, viel zu tun, aber ich bin erschöpft und frustriert, weil es so wirkt, als sei es nie genug. Das tut mir weh".

"Bindungsängstliche sind Alleinherrscher"

Das liegt wahrscheinlich an einer tiefen Ur-Angst. Manche Menschen haben Angst, selbst nicht gut genug zu sein oder geliebt zu werden oder sie haben in ihrer Kindheit die Erfahrung gemacht, für positive Bestätigung kämpfen zu müssen.

Das ist schwierig für die Person, vor der geflüchtet wird, weil dadurch Ängste entstehen. Am besten wäre es, nachzufragen, warum der andere flüchtet. Hat ein Partner den Flucht-Impuls, dann sollte man ihm Raum geben und nicht verfolgen, damit er sich nicht noch mehr zurückzieht. Wenn er wieder zur Ruhe gekommen ist, kann man aber auch einfordern, über die Probleme zu reden. "Was können wir tun, damit du wieder zurückkommst", wäre ein guter Einstieg.

"Beziehungen dürfen auch mal leicht sein"

Ja, das ist furchtbar. Gerade für Verfolger ist es das schlimmste, diesen Rückzug anzunehmen, weil es ihnen lebensbedrohlich erscheint. Man sollte sich daran erinnern, dass es nicht sofort um eine Trennung geht, sondern dass der Partner oder die Partnerin einfach nur Ruhe braucht, um die Energie wieder aufbringen zu können, sich den Beziehungsproblemen zu stellen. Das muss er dann aber auch irgendwann tun, um die andere Person nicht ewig hinzuhalten.

Der Partner könnte ihm klarmachen, dass er sich noch nicht trennen will und die Gründe aufzählen, warum er an der Beziehung weiter festhält, etwa in dem er gute Momente zu zweit aufzählt. Ein Beispiel wäre: "Letztens auf dem Konzert haben wir uns so gut verstanden, genauso will ich das mit dir."

Verzeihen und reden sind Zauberkräfte

Gerade die Angreifer sagen häufiger, dass sie sich trennen wollen, wenn etwas nicht klappt. Anfangs wirkt das auch noch, weil die andere Person Angst bekommt und um die Beziehung kämpft. Aber je öfter man das sagt, desto bedeutungsloser wird die Drohung. Sollte die Trennung als Option wirklich im Raum stehen, kann einerseits der Angreifer erklären, warum er sich trennen will, der Rückzügler kann aber auch nach diesen Gründen fragen, um mehr Verständnis dafür zu bekommen und nach Lösungen zu suchen.

Wenn man sich gar nicht streitet, zeigt das oft, dass das Paar aus zwei Rückzüglern besteht. Konflikte werden also nicht ausgetragen, sondern totgeschwiegen. Irgendwann sitzen sie dann auf der Couch und haben sich gar nichts mehr zu sagen. Die bessere Dynamik für Beziehungen besteht sogar aus Angreifer und Rückzügler, weil Konflikte angesprochen werden, vom Rückzügler aber auch etwas ruhiger angegangen werden.

Sollte die These stimmen, sollte der- oder diejenige dies zugeben, auch wenn das den anderen Menschen verletzen könnte. Die Frage ist dann, was fehlt in der Beziehung des Paares, um über gewisse Dinge sprechen zu können. Zum Beispiel, indem ich sage, ich schreibe mit dieser Person, weil es mir leichter fällt, mit ihr über intime Dinge zu sprechen. Die Frage, wie man das wieder in die Beziehung bringen kann, ist wichtiger als die Frage, ob diese Bekanntschaft richtig ist. Eifersucht kann sehr groß werden, wenn die Beziehung nicht läuft. Paare brauchen Sicherheit und Stabilität, um mit potenziellen Gefahren umgehen zu können.

In Liebesbeziehungen wollen wir am meisten als die Person gesehen und akzeptiert werden, die wir sind - noch mehr als von Familienmitgliedern, Freunden oder Arbeitskollegen. Wenn der Partner oder die Partnerin mich wegen meiner Verletzlichkeit ablehnt, ignoriert oder sogar heruntermacht, dann fange ich an, mich einsam zu fühlen, weil ich mich noch nicht mal in meiner Beziehung angenommen fühle. Diese Einsamkeit kann sich lebensbedrohlich anfühlen, deshalb gehen viele in einen Überlebensmodus und wechseln zu "fight, flight or freeze". Das heißt, dass wir kämpfen, flüchten oder einfrieren, um zu überleben.

"Verliebtheit hat mit Liebe nichts zu tun"

Keine Vorwürfe in Du-Sätzen, zum Beispiel: "Du bist am Wochenende nie für mich und die Kinder da." Die Ich- oder Wir-Perspektive funktioniert viel besser, beispielsweise: "Ich glaube, dass es uns in der Beziehung gerade nicht mehr so gut geht, was können wir tun?" Mehr Verbindung schafft man vor allem auch durch bewusste Zeit miteinander, also zum Beispiel durch Dates, bei denen man gemeinsam Aktivitäten plant und gemeinsam neue Erinnerungen schafft. Viele Paare vergessen, dass man sich auch in einer Beziehung unabhängig voneinander entwickeln und den anderen einbeziehen kann.

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